Aktuelles Heft Concilium

59. Jahrgang - Heft 1 | März 2023

Rassismus - Interkulturelle Perspektiven von Frauen

Sharon A. Bong, Bernadeth Caero Bustillos und Susan Abraham

Rassismus ist eine erschreckende Realität in unserer heutigen Welt. Vom unverhohlenen, entmenschlichenden Rassismus der politischen Rechten über den beiläufigen Alltagsrassismus gewöhnlicher Menschen bis hin zur verdeckten Auslöschung ganzer Bevölkerungsgruppen – Rassismus spielt in der Erfahrung vieler Menschen eine große Rolle. Für die christliche Theologie bleibt Rassismus eine Herausforderung, insbesondere für eine Theologie, die sich auf die Würde der menschlichen Person als Grundlage ihrer theologischen Anthropologie stützt. Jede Analyse des Rassismus ist auch von säkularen soziologischen Analysekategorien abhängig, was manche zu dem Einwand veranlasst, er habe keine theologischen Implikationen. Diese Ausgabe von CONCILIUM stellt die Dichotomie von »religiös« und »säkular« infrage, denn sie geht davon aus, dass die Erfahrung der Entmenschlichung aufgrund von »Rasse«, ethnischer Zugehörigkeit oder kultureller Identität auch eine Quelle für theologisches Denken und neue Gedanken ist.
Für Frauen kommt die Erfahrung geschlechtsspezifischer Marginalisierung und Gewalt hinzu. Wenn Rasse und Geschlecht (und implizit auch Sexualität) in der christlich-theologischen Arbeit als Ausschlusskategorien bestehen bleiben, wird die Reflexion über diese sich überschneidenden Ausschlusskategorien zu einem theologischen Auftrag. Daher setzen wir als Theologinnen aus sechs verschiedenen Kontinenten der Welt – Nord- und Südamerika, Europa, Afrika, Australien und Asien – bei unseren eigenen Erfahrungen mit Rassismus an und schreiben als Frauen, die auch rassische, ethnische und indigene Minderheiten in sozialen Kontexten sind.
Diejenigen, die in den Vereinigten Staaten leben, erinnert das derzeitige Erstarken von Black Lives Matter (BLM) an frühere antirassistisch inspirierte Bewegungen, die gegen Formen der »White Supremacy« (»Weiße Überlegenheit«) gekämpft haben. Die BLM-Bewegung, die sich auf Überlegungen der Kritischen Rassentheorie stützt, wirft viele theoretische und theologische Fragen auf. In welchem Verhältnis steht die Partikularität der schwarzen Haut zur vermeintlichen und erklärten Universalität einer »farbenblinden« Theologie? Und überhaupt: Was bedeutet »White Supremacy«? Weiße Suprematie ist eine immer noch bestehende Herrschaftsform, die aus der Angst und dem Hass auf schwarz- und braunhäutige Menschen geboren ist und sich der Vorzüge des kulturellen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kapitals des »Weißseins« rühmt. Ein Hauptmerkmal des Weißseins ist die Geschichte von Sklaverei, Kolonialismus und Genozid. Seine Vormachtstellung ist vielschichtig und äußert sich in einem System der Privilegien für die einen und in der gewaltsamen Ausgrenzung, Auslöschung und Amnesie der anderen. Allerdings lehrt die Weltgeschichte, dass sich die Gewalt des Weißseins auch gegen Weiße richten kann, die arm sind, bestimmten geschlechtsspezifischen und sexuellen Rollenerwartungen nicht entsprechen oder anderweitig kulturell marginalisiert leben. Diese Gewalt kann auch von schwarzen und braunhäutigen Menschen gegen andere ausgeübt werden. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass antirassistische theologische Arbeit die Möglichkeiten komplexerer Formen von Allianzen und Koalitionen zum Ausdruck bringt.
Andere in anderen Teilen der Welt, die das Christentum als koloniales Vermächtnis geerbt haben, erleben den Rassismus als Kolonialismus. Verschiedene Formen des Kolonialismus, insbesondere der europäische Kolonialismus, schufen einen gefährlichen Nährboden für den heutigen Rassismus. In seiner ersten Erscheinungsform hinterließ der europäische Kolonialismus seine Spuren in den ehemaligen Kolonien, als sich nach der historischen Dekolonisierung Formen der Diskriminierung verschiedener Gruppen in Afrika, Asien und Lateinamerika verfestigten. Der Abzug der europäischen Kolonialmächte aus Afrika, Asien und Lateinamerika um die Mitte des 20. Jahrhunderts bedeutete jedoch kein Ende des Rassismus. Die neuen Formen des Rassismus, die auf der Grundlage religiöser, staatsbürgerlicher, geschlechtsspezifischer, klassenspezifischer oder sexueller Unterschiede in nationalen Kontexten zum Tragen kommen, schaffen bemerkenswert ähnliche Systeme der Ausgrenzung und Entmenschlichung wie die europäischen und westlichen Formen der Diskriminierung: Weißsein in neuen Formen.
Aus diesem Grund haben Critical-Race-Theoretiker*innen das »Post« in der Postkolonialität problematisiert, da postkoloniale Regierungen mit der ethnischen, kulturellen und religiösen Vielfalt unter dem Deckmantel der nationalistischen Assimilation oft diskriminierend umgingen und sie in einigen Fällen gewaltsam unterdrückten. Die Auslöschung von indigenen und minoritären Kulturen, ihrer Spiritualität und Identität im Namen der nationalen Einheit und des Entwicklungsfortschritts hat zu engen und eigennützigen Definitionen von Selbst und Anderen, Bürgern und Ausländern sowie Gastgebern und Fremden geführt. Religiöse Identität und Staatsbürgerschaft sind weitere Marker der Spaltung, da neokoloniale und rassistische globale kapitalistische Konfigurationen die kulturellen Unterschiede verstärken. Eine solche Zersplitterung der menschlichen Beziehungen steht im Einklang mit einem reduktionistischen Verständnis der Schöpfung, das ebenso androzentrisch wie anthropozentrisch ist.
Geschlechtsspezifische Ungleichheiten wirken sich kritisch auf den Rassismus als eine Form struktureller und systemischer Gewalt aus, wodurch Unterschiede, die innerhalb einer heteropatriarchalen Weltsicht von Bedeutung sind, eingeebnet werden. Beispiele hierfür sind die Privilegierung heteronormativer Körper und Sexualitäten sowie das Phänomen des Kolorismus, das heterosexistische kulturelle Ideale von Schönheit und Status repräsentiert, in denen Frauen mit heller Haut oder diejenigen, die ein Mitglied des anderen Geschlechts heiraten, das heller oder weißer ist als die Mehrheit im häuslichen Kontext, unmittelbaren Zugang zu Privilegien haben, die anderen verwehrt sind. Die Feminisierung der Armut, die Globalisierung, die Arbeitswelt und die Migration haben die »Dritte-Welt-Frau« in eine Position der Verwundbarkeit und der Viktimisierung gebracht.
Wenn wir an der Aushöhlung der Menschenwürde der »Anderen« mitschuldig sind, machen wir uns der Entsakralisierung der menschlichen Person schuldig, die als imago Dei geschaffen ist. Feministische Theologinnen nehmen einen intersektionalen Standpunkt ein, um die Theologie zu dekolonialisieren, um festzustellen, wie man aufgrund seines Geschlechts, seiner sexuellen Orientierung, seiner »Rasse«, seiner Kaste und seiner Klassenunterschiede mehrfach unterdrückt werden kann. Intersektionalität stellt potenziell die Pluralität, die Vielfalt und sogar die Fluidität des Gottesbildes wieder her, indem sie uns einlädt, uns für das Geheimnis Gottes zu öffnen.
Wir sind uns bewusst, dass eine solche intersektionale Arbeit von vielen, insbesondere von Kirchenvertretern, rundweg verurteilt wird. M. Shawn Copeland erinnert uns in ihrem Beitrag für dieses Heft daran, dass die christliche Theologien noch immer die »weißeste« aller akademischen Disziplinen ist. In der christlichen Theologie ist Weißsein das Beharren darauf, dass soziologisches, philosophisches, literarisches, historisches und anderes säkulares Wissen keinen Platz im theologischen Denken hat – eine Haltung, die in völligem Gegensatz zu der Art und Weise steht, wie sich die christliche Theologie in den letzten zweitausend Jahren entwickelt hat. Die Dichotomie religiös/säkular ist eine, die Frauen und rassifizierte Theolog*innen gegenüber der »echten« christlichen Theologie auf Abstand hält.
Deshalb stehen am Beginn dieses Hefts Erzählungen von Frauen über ihre Erfahrungen mit der Rassifizierung, gefolgt von einer theoretischen Analyse der sich überschneidenden Achsen der Unterdrückung im Leben dieser Wissenschaftlerinnen, denn wir verstehen Theologie als eine Arbeit, bei der wir uns auf eine von Gott geschaffene Welt in all ihrer komplexen Verflechtung einlassen. Wir möchten von den Erfahrungen der Frauen ausgehen, um unsere wissenschaftlich-theologischen Beiträge zu fundieren. Die Autorinnen bedienen sich hier zwar soziologischer Analysen, um von rassifizierter, geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt zu berichten, ihre Überlegungen werfen aber auch wichtige theologische Fragen auf. So erinnert uns beispielsweise JoAnne Marie Terrell aus Chicago mit den Worten von W. E. B. Dubois daran, dass Rassismus eine Art »tröpfchenweiser Völkermord« ist, dessen Geschichte der Komplizenschaft weißer Evangelikaler mit Amerikas Sklaverei die christliche Theologie nicht ignorieren kann. Sie fordert eine erkenntnistheoretische und ontologische »radikale Veränderung der Perspektive«, damit wir anfangen können, unser »gemeinsames Menschsein« wertzuschätzen.
In ähnlicher Weise sprechen die Theologinnen Cristina Gomez und Seforosa Carroll aus dem pazifischen Raum davon, dass das westeuropäische Christentum massiv mit kolonialen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Unternehmungen kollaborierte, was unter anderem zu Ungerechtigkeiten und Verbrechen und dem Trauma des Genozids führte. Das Weißsein wird in der christlichen theologischen Vorstellungswelt, so argumentieren sie, durch Bilder eines weißen Christus abgesichert, die das Verständnis von Gott mit der gewalttätigen Macht des weißen, kolonisierenden Imperiums gleichsetzen. Die Dekolonialisierung der Theologie läuft darauf hinaus, sie durch ein intersektionales feministisches Bewusstsein zu erschüttern, das potenziell sowohl die Geschlechterblindheit als auch die Farbenblindheit der ererbten Theologien korrigiert.
Septemmy Lakawa aus Indonesien erzählt die Überlebensgeschichten dreier christlicher Theologinnen aus Papua und stellt deren Widerstandsfähigkeit in den Mittelpunkt. Damit nährt sie die transformative Hoffnung auf eine »Noken-Theologie«, eine Theologie der Gebärmutter (rachamim), die im Wesentlichen eine »Zeugnistheologie« für das unsagbare erlebte Trauma darstellt.
Die Entstehung nicht nur widerstandsfähiger, sondern auch widerständiger Theologien macht das Christentum für die strukturelle und systemische Diskriminierung rassifizierter Menschen mitverantwortlich. Judith Gruber erkennt im europäischen Kontext an, wie schmerzhaft es ist, die Verletzlichkeit und Prekarität von Arbeitsmigrantinnen zu erleben, die als minderwertig, ja sogar illegal konstruiert werden, damit sie von denen ausgebeutet werden können, die die Grenzen kontrollieren. Die Theologie, die im Zuge der Kolonisierung indigene Menschen danach beurteilte, ob sie eine Seele haben oder nicht, spielte dabei eine wesentliche Rolle. Menschen »ohne Seele« wurden bald als »theologisch unrettbar, also wirtschaftlich versklavbar« angesehen.
Die Subalterne spielt ebenfalls eine Rolle im Beitrag von Geraldina Céspedes, der im lateinamerikanischen und karibischen Kontext verfasst wurde und uns auffordert, die heimtückischen Auswirkungen des »Epistemizids« zu erkennen, insbesondere die Farbenblindheit selbst der feministischen Bewegung und folglich auch der feministischen Theologien. Sie wendet Elisabeth Schüssler-Fiorenzas »Hermeneutik des Verdachts« an, um verborgene Narrative sichtbar zu machen und neue Narrative zu entwickeln, die auf Vielfalt, Inklusivität und Gerechtigkeit beruhen.
Und Anne-Béatrice Faye , die im afrikanischen Kontext schreibt, zeigt auf, wie Rassismus durch geschlechtsspezifische Gewalt dem Körper eingeschrieben wird und durch kulturelle Gewalt legitimiert wird, bei der Frauen den Schmerz der »Derealisierung« durch die Zwangsvererbung von Witwen, durch Verstümmelung, z. B. beim Schlagen der Ehefrau, und durch die weibliche Genitalverstümmelung erleiden – neben anderen entmenschlichenden und entpersönlichenden Praktiken.
Ein weiterer Teil des Hefts wirft ausdrücklich theologische, ekklesiologische und ethische Fragen zum Rassismus auf. C. Vanessa White berichtet von der Entwicklung eines von ihr unterrichteten Kurses, der die Verbindung zwischen dem indischen Kastensystem und dem amerikanischen Rassismus untersucht und auf der einflussreichen Arbeit von Isabel Wilkerson aufbaut. Antirassistische Praktiken müssen ihrer Meinung nach in einer Spiritualität verwurzelt sein, die die absolute Würde des Menschen anerkennt, da wir alle nach dem Bild und Gleichnis eines liebenden Gottes geschaffen sind.
Die katholische Latina-Theologin Neomi De Anda legt eine komplexe christlich-theologische Analyse vor, die sich aus der Betrachtung der Überschneidungen von ethnischen, rassifizierten Minderheiten, Einwanderungsgeschichten und Sexualität ergibt. Intersektionale Analysen werden natürlich sofort durch maskulinistische Perspektiven entwertet, die auf sauberen Trennlinien und undurchlässigen Grenzen bestehen. Auf diese Weise setzt sich die koloniale Logik des »Teile und herrsche« auch in der christlichen Theologie fort.
Für Pearl M. Barros, eine weitere Latina-Theologin aus den USA, ist der Rassismus eine »offene Wunde«, die bei lateinamerikanischen Frauen, insbesondere bei Frauen, die aus Mittel- und Südamerika über die Grenze in die Vereinigten Staaten kommen, zu vielfältigen Formen der Traumatisierung führt. Ausgehend von Gloria Anzalduas »Grenzdenken« plädiert Barros für »Heilung an der Grenze«.
Elizabeth O’Donnell Gandolfo versucht, die »koloniale Troika« aus Rassismus, Patriarchat und Kapitalismus aufzubrechen, auf die fast alle Autorinnen dieses Hefts gestoßen sind. Sie tut dies, indem sie ihre ökofeministische Theologie auf die Arbeit der ermordeten indigenen Umweltschützerin Berta Cáceres gründet, und fordert uns damit heraus, christliche Ökotheologien zu dekolonialisieren, die auf androzentrischen und anthropozentrischen Rahmenbedingungen beruhen, um die »integrale Ökologie« und »gemeinsame Menschlichkeit« von Papst Franziskus zu verwirklichen, die die Entmenschlichung derer, die nicht so sind wie wir, vermeiden.
Zuletzt weist M. Shawn Copeland, Nordamerikas führende afroamerikanische katholische Theologin, auf die Wechselwirkung von Rasse, Geschlecht und Sexualität hin und hält fest, dass diese drei Faktoren völlig entmenschlichende Bedingungen für afroamerikanische Menschen schaffen. Sie erinnert uns erneut daran, dass die Geringschätzung der Analysen von Rasse, Geschlecht und Sexualität durch Kirchenvertreter ein deutliches Zeichen dafür ist, dass die Kirchen und die christliche Theologie weiterhin gewalttätige und entmenschlichende Ordnungen des Seins, Denkens und Handelns aufrechterhalten.
Diese Ausgabe von CONCILIUM wird abgerundet durch die Interviews von Bernardeth Caero Bustillos im Theologischen Forum. Zwei indigene Frauen aus dem bolivianischen Amazonasgebiet, Ruth Alipaz Cuqui und Rosalia Matene Mosua, berichten von ihren Erfahrungen bei der Verteidigung ihres Territoriums, das sich nicht auf einen geografischen Raum beschränken lässt. Für sie ist das Territorium der lebendige Raum, in dem alles, was Leben hat, zusammenlebt. Erst die Prinzipien der Freiheit und des Respekts machen dieses Zusammenleben möglich.

Judith Gruber, Narrative von Frauen zur Rassifizierung. Europäische Perspektiven.pdf

Joanne Marie Terrell, Der langgestreckte Holocaust. Rassismus im nordamerikanischen Kontext.pdf

Pearl Maria Barros, Rassismus und Trauma, Grenzland, ambivalente Hoffnung und Heilung.pdf

Zusammenfassungen des Heftinhalts.pdf

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