Aktuelles Heft Concilium
59. Jahrgang - Heft 4 | Oktober 2023
Missbrauch in der Kirche
Michelle Becka, Po-Ho Huang, Gianluca Montaldi
Wir schreiben das Jahr 2023, und das Problem sexueller und anderer Formen des Missbrauchs in der Kirche ist seit Langem bekannt. Aber immer noch sind der Umgang mit den einzelnen Fällen, die Behandlung der Opfer bzw. der Überlebenden, die Aufarbeitung der Ursachen, die Veränderung der Strukturen, die Missbrauch begünstigen, die Einführung von Kontrollmechanismen und nicht zuletzt die theologische Reflexion darüber ausgesprochen unbefriedigend. Deshalb ist diese Ausgabe notwendig.
Bereits 2004 ist diesem Thema ein Heft von CONCILIU M gewidmet worden. Es trug den Titel: Struktureller Verrat – Sexueller Missbrauch in der Kirche und wurde von Regina Ammicht Quinn, Hille Haker und Maureen Junker-Kenny konzipiert und herausgebracht. Es wies weit über die Zeit seines Erscheinens hinaus. Seither wurden einige Forderungen erfüllt, andere nicht. Und wieder andere werden gegenwärtig (erneut oder immer noch) heftig diskutiert. Die Überlegungen der Ausgabe von 2004 bilden auch die Grundlage für unser gegenwärtiges Nachdenken. Wir bauen auf ihnen auf. Zugleich setzen wir den Schwerpunkt im vorliegenden Heft ein wenig anders. Es geht nun nicht in erster Linie um sexualisierte Gewalt gegen Kinder, sondern um missbräuchliche Beziehungen in der Seelsorge und sexualisierte Gewalt in diesen Kontexten. Erst allmählich rückt dieses Thema ins Zentrum der Aufmerksamkeit. In vielen Fällen geht der sexuelle Missbrauch Hand in Hand mit geistlichem Missbrauch, aber natürlich können beide auch getrennt voneinander auftreten. Während beim sexuellen Missbrauch die sexuelle Selbstbestimmung des Menschen missachtet wird, stellt der geistliche Missbrauch eine Missachtung der spirituellen Selbstbestimmung dar. Formulierungen wie »die Liebe Gottes« und »der Wille Gottes« dienen oft als Legitimation für Missbrauch.
»Missbrauch« ist ein irreführender Ausdruck; üblicherweise sprechen wir inzwischen von sexualisierter Gewalt. Der Ausdruck »Missbrauch« ist problematisch, weil er nahelegen könnte, es gebe einen »angemessenen« Gebrauch von Personen im Gegensatz zu ihrem »Miss«-Brauch. Natürlich ist das nicht sinnvoll. Es gibt weder einen falschen noch einen richtigen »Gebrauch« von Menschen; vielmehr sollten Menschen grundsätzlich nicht benutzt werden. Doch gerade darum weist dieser Punkt auf den Kern des Problems hin: dass in Fällen von sexuellem Missbrauch Individuen nicht als Subjekte und Personen wahrgenommen und respektiert werden. Sie werden benutzt, objektiviert, instrumentalisiert. Die Botschaft der missbrauchenden Person lautet: »Ich bin dir überlegen.« Missbrauch ist deshalb immer ein Missbrauch von Macht und Vertrauen, insbesondere in Abhängigkeitsverhältnissen. Vor allem in Beziehungen der geistlichen Begleitung oder der Seelsorge werden diese Abhängigkeiten religiös verbrämt. Genau darum geht es in dieser Ausgabe. In diesem Sinne verwenden wir den Begriff »Missbrauch« in einem übergeordneten Sinn, denn es gibt mehrere Formen des Missbrauchs (geistlicher, psychologischer, sexueller Missbrauch usw.).
Wie es bei CONCILIUM üblich ist, behandeln wir das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln und gehen es international an. Allein das ist ein schwieriges und immer noch begrenztes Unterfangen. Denn während an einigen Orten und in einigen Fällen die verschiedenen Formen des Missbrauchs aufgedeckt wurden, die Betroffenen darüber sprechen können und eine kritische Aufarbeitung durch die beteiligten Institutionen und Personen begonnen hat, werden andernorts Missbrauchsfälle immer noch ignoriert oder vertuscht, wobei die in irgendeiner Form Betroffenen noch nicht öffentlich darüber gesprochen haben. Konkret führt dies zu einem sehr unterschiedlichen Charakter der Beiträge. Einige können sich mit einer gewissen Distanz und unter Rückgriff auf verschiedene Studien mit ihrer Frage auseinandersetzen, bei anderen sind solche Studien nicht vorhanden und die Zugänge sind persönlicher gehalten. Und manche Beiträge konnten überhaupt nicht geschrieben werden.
Dies gilt insbesondere für einen Beitrag, der ganz konkret die Erfahrungen von Frauen, Opfern / Überlebenden aus einer bestimmten Region darstellen sollte: Aber es war ihnen noch nicht möglich, ihre Erfahrungen auszudrücken oder zu veröffentlichen. Sie können (noch?) nicht darüber sprechen. Das ist die Situation, in der wir uns befinden. Das ist die Situation, die wir – nicht umfassend, aber mit einigen Mosaiksteinen – darstellen und theologisch reflektieren wollen. Das Redaktionsteam hat deshalb die unterschiedlichen Zugangsweisen respektiert, und wir haben die Beiträge nur zurückhaltend redigiert. Unterschiedliche Sichtweisen sind hier versammelt, Spannungen zwischen den Beiträgen wurden nicht geglättet, Wiederholungen nicht gestrichen.
Ungeachtet der Unterschiede zwischen den Beiträgen ist der gemeinsame institutionelle Kontext, um den es in jedem Fall geht, die Kirche. In diesem Heft fragen wir nach der institutionellen und theologischen Rolle sowie nach der Verantwortung der katholischen Kirche, die sowohl durch die Ermöglichung von Missbrauchsbeziehungen als auch durch ihre Manöver der Vertuschung Leid verursacht. Der Missbrauch von Macht vergiftet das Vertrauen und die Beziehung zu Gott. Was folgt daraus?
Wir eröffnen diese Ausgabe mit einem Rückblick auf das CONCILIU M-Heft 3/2004. Hille Haker geht den Veränderungen im Diskurs und in den Reaktionen seither nach. Neben die weiter bestehende Schwierigkeit, in der Folge erlebter sexueller Gewalt das Wort zu ergreifen, tritt nun – als sekundäre moralische Verletzung und epistemische Ungerechtigkeit – die Tatsache, dass diejenigen, die das Schweigen gebrochen haben, in vielen Fällen mundtot gemacht wurden.
Das theologische Nachdenken über das Thema muss damit beginnen, die Stimmen derer zu hören, die Missbrauch erlebt haben. Beiträge aus verschiedenen Kontexten zeigen, wie Opfer / Überlebende selbst – oder Menschen, die mit ihnen arbeiten – mit Missbrauchserfahrungen umgehen, wie sie diese narrativ oder theologisch reflektieren, wie sie immer noch darunter leiden – oder kraftvoll Widerstand leisten. Hierzu stellt Ute Leimgruber aus Deutschland die Bedeutung des Projekts »Erzählen als Widerstand« dar. Ihr Artikel befasst sich nicht nur mit dem Phänomen des »Missbrauchs an erwachsenen Frauen«, sondern gewinnt auch wichtige Erkenntnisse aus der Lektüre der Opferberichte. Rocío Figueroa Alvear und David Tombs zeigen anhand von erschütternden Zeugnissen von Opfern / Überlebenden aus der Gemeinschaft Sodalitium Christianae Vitae in Peru, wie eng geistlicher und sexueller Missbrauch (nicht nur) dort miteinander verbunden sind.
Marie Jo Thiels Beitrag skizziert den Umgang der französischen Kirche mit der Missbrauchskrise und untersucht die Schlussfolgerungen und Empfehlungen der CIA SE (Unabhängige Kommission für sexuellen Missbrauch in der Kirche) vom Oktober 2021, die in Frankreich und darüber hinaus einen Schock auslösten.
Federica Tourn und Ludovica Eugenio werfen einen Blick auf die italienische Situation und zeigen, wie mächtig die Mauer des Schweigens dort noch ist – in der Kirche und auch in der Gesellschaft. Soledad de Villar fragt im chilenischen Kontext, ob nicht die Opfer / Überlebenden als theologischer Ort (locus theologicus) verstanden werden sollten, und stellt einen engen Bezug zum gekreuzigten Christus her. Mùmbi Kìgùtha reflektiert auf sehr persönliche Weise, inwieweit ein großes Machtungleichgewicht in pastoralen Beziehungen Missbrauch begünstigt, und sie zeigt, wie dies zu institutioneller Gewalt führt. Sie setzt sich in der Aufarbeitung für einen opferzentrierten Ansatz ein.
Die folgenden Beiträge befassen sich mit den Zusammenhängen zwischen Missbrauch, Macht und Institution. Rhoderick John S. Abellanosa von den Philippinen stellt den Missbrauch in einen breiteren Kontext und kritisiert Elitedenken und Macht in der Kirche. Doris Reisinger aus Deutschland befasst sich mit dem geistlichen Missbrauch und zeigt auf, wie dieser die Selbstbestimmung und die spirituelle Integrität zerstört. Als Nährboden für geistlichen Missbrauch macht sie das ambivalente Verhältnis des Lehramtes zur menschlichen Freiheit aus. Virginia Saldanha, die Opfer / Überlebende begleitet, erläutert den Zusammenhang zwischen klerikaler Macht und der Ermöglichung von Missbrauch, mit verheerenden Folgen für die Glaubwürdigkeit der Kirche. Zuletzt setzt sich Hans Zollner SJ mit den Reaktionen auf den Missbrauch und mit der Aufgabe der Aufarbeitung auseinander. Er weist darauf hin, dass Opfer und Überlebende diese Prozesse unterschiedlich wahrnehmen und erleben. Darin sieht er den Grund für die unterschiedlichen Erwartungen, die beide Seiten an diesen Prozess haben.
Den Abschluss des Heftes bilden zwei Beiträge für das Theologische Forum, die im Hinblick auf den 75. Jahrestag der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte die Frage nach ihrer Universalität aus zwei sehr unterschiedlichen Perspektiven beleuchten.
Aus dem Englischen übersetzt von Norbert Reck
Ute Leimgruber, Listen to the Victims.pdf
Zusammenfassungen des Heftinhalts.pdf